Leben im SLW: Jugendwohngruppe Neumarkt als Teil des Pädagogischen Zentrums St. Josef in Parsberg
Neumarkt. Für viele junge Menschen zwischen 15 und 21 Jahren ist der Schritt ein ganz entscheidender: Von zu Hause geht es mit Hilfe des Jugendamtes in eine vollstationäre, heilpädagogische Jugendwohngruppe (JWG). Etwa nach Neumarkt, einer Außenstelle des Pädagogischen Zentrums (PÄZ) St. Josef in Parsberg unweit von Regensburg. Seit mehr als 25 Jahren gibt es diese Möglichkeit – für die Betroffenen oft nicht nur eine wertvolle Anlaufstelle, sondern vor allem eine Chance, manches hinter sich lassen zu können und vor allem: eine echte Perspektive zu haben.

Sprungbrett in die Zukunft
„Ich hab viel Mist gebaut“, gibt Til zu. Er ist 16 und macht eine Ausbildung zum Friseur. Gerade ist er nach Hause gekommen in die JWG. In der Küche trifft er auf Jule, ebenfalls 16 Jahre alt. Auch sie macht eine Ausbildung, und zwar im Einzelhandel. Die beiden kennen sich bereits aus einer anderen Wohngruppe; da waren sie noch Kinder. Was sie erlebt haben, schweißt sie zusammen. Sie sind sich einig: In Neumarkt sei es „chillig(er)“: Als Jugendliche haben sie mehr Freiheiten und fühlen sich zugleich ernster genommen von den für sie zuständigen Erzieherinnen und Erziehern. Erst seit ein paar Wochen sind sie Teil der JWG mitten in der Altstadt von Neumarkt. Gemeinsam mit sechs weiteren Jugendlichen leben sie auf mehreren Etagen in einem vom PÄZ angemieteten ehemaligen Mehrgenerationenhaus auf rund 400 Quadratmetern.
Es klopft – Maxi steht vor der Tür. Unterhalb der JWG, im Erdgeschoss, gibt es das so genannte Innenbetreute Wohnen, zwei separate Wohnungen für Jugendliche, die probeweise alleine leben. Seit ein paar Wochen organisiert sich der 21-Jährige selbst, muss mit Haushaltsgeld auskommen und für sich kochen. „Wenn doch mal was nicht klappt oder die Jugendlichen Hilfe brauchen, sind wir natürlich da“, erklärt Michael Simon, Erziehungsleiter aus Parsberg. Mindestens einmal in der Woche ist der gelernte Erzieher in Neumarkt, um die Jugendlichen zu treffen und sich mit dem Team an Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Heute ist auch Johanna Koller-K.C. da. Die Diplom-Sozialpädagogin (FH) gehört ebenfalls zur Erziehungsleitung des PÄZ.
Zeit für Gespräche ist äußerst wichtig.
Im Wohnzimmer sitzt Gruppenleiter Christoph Gradl mit ein paar Jugendlichen am Tisch. Zeit für Gespräche ist ihm äußerst wichtig. Auch wenn eigentlich immer etwas im Büro zu tun ist. „Alles muss dokumentiert und fest- gehalten werden“, so der 35-Jährige. Umso mehr schätzt der Erzieher das jährliche Ferienlager in den Sommerferien im Zillertal, das – losgelöst von Bürokratie und Alltag – besonders wertvoll für das Miteinander sei. Maxi ist wieder unten in seiner Wohnung. Seine Ausbildung zum Erzieher hat er bald abgeschlossen. Nach Feierabend beschäftigt er sich am liebsten kreativ; dabei kann er gut abschalten. Konzentriert sitzt er über kleinen Kunstwerken aus Bügelperlen und genießt sein meditatives Hobby. Seit drei Jahren ist er Teil der JWG und mittlerweile der Älteste. „Meine Eltern konnten mir nicht die Unterstützung bieten, die ich gebraucht hätte“, sagt er, wenn er an die Vergangenheit denkt. „Auch wenn sie sicherlich ihr Bestes gegeben haben, waren sie überfordert mit mir: Ich hatte viele Ängste und habe kaum gesprochen, als ich hierher kam. Ich brauchte damals dringend professionelle Hilfe.“ Auf der Suche nach der passenden Farbe kramt Maxi in den Kästen mit den Perlen. „Mit der Unterstützung, die ich hier bekomme, konnte ich mich gut entwickeln“, reflektiert er. Nach erfolgreichem Abschluss seiner Ausbildung – voraussichtlich im kommenden Sommer – möchte er ausziehen und auf eigenen Beinen stehen.
Til und Jule brauchen noch etwas Zeit und Unterstützung. Gemeinsam studieren sie den Putzplan, erklären, wer gerade für welchen Bereich der Wohnung zuständig ist. Nach Hause fahren sie nur selten. „Da gibt es zu viele Probleme“, winken sie ab. Über die Wendeltreppe geht es hinauf zu den Zimmern der Jugendlichen. An der Wand hängt der sogenannte Stufenplan – jede Phase in einem eigenen Bilderrahmen. Diese Regeln seien die Grundlage der JWG, erklärt Michael Simon: In der sechswöchigen Eingewöhnungsphase mit Probezeit lernen die Jugendlichen die Tagesabläufe kennen und sollen sich eine gewisse Grundordnung für ihr Zimmer erarbeiten. Daran schließt sich – für ebenfalls mindestens sechs Wochen – die Orientierungsphase mit zunehmender Partizipation an: Neben schulischen Verpflichtungen stehen hier Körperhygiene, Gesundheitsvorsorge, Pünktlichkeit und Respekt im Mittelpunkt.
„Dann kommt die Intensivierungsphase“, erklärt Michael Simon: Ab dieser Stufe, die mindestens zwei Monate dauere, sei auch ein Umzug ins Innenbetreute Wohnen möglich. Zudem gehe es darum, Konflikte angemessen zu klären und sowohl die private als auch berufliche Zukunft zu planen. „Dabei helfen wir Erzieherinnen und Erzieher natürlich“, erläutert Michael Simon. Je länger die Jugendlichen in der JWG leben, desto eigenverantwortlicher sollten sie agieren (können). Dies wird in der sogenannten Übergangsphase deutlich, in der über mindestens zwei Monate hinweg die Zukunftsplanung konsequent umgesetzt werden sollte. Der Stufenplan endet mit der Verselbständigungsphase. Große Hoffnung haben die Erzieherinnen und Erzieher dann, dass sie ihre Schützlinge mit einem guten Gefühl ziehen lassen können. Michael Simon mag das Bild vom „Fluss der Gemeinschaft“: „Das Leben“, so der 52-Jährige, „ist wie ein Fluss – manchmal ruhig, manchmal stürmisch, doch immer in Bewegung.“ Er ist sicher: „Jede Begegnung, jedes Lächeln, jede helfende Hand hat Wellen geschlagen, die weitergetragen werden.“
Ulrike Schwerdtfeger